Menschliches Versagen - aber nicht allein: Nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk verdichten sich die Hinweise, dass ein Fehlverhalten des Piloten, aber auch der desolate Zustand des Airports und die Angst vor einem politischen Skandal die Katastrophe herbeiführten.
Moskau - Erstmals meldete sich am Mittwoch ein Fluglotse zu Wort, der am 10. April Dienst am Militärflughafen Sewernyj bei Smolensk hatte und mitverfolgte, wie 97 Menschen bei dem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, unter ihnen der polnische Präsident Lech Kaczynski, seine Ehefrau und zahlreiche Führungspersonen der politischen Elite.
Etwa einen Kilometer vor der Landebahn sei klar gewesen, dass die Präsidentenmaschine zu tief fliege, etwa 20 Meter statt der geforderten 60 Meter über dem Boden, sagte er der russischen Zeitung "Nowaja Gazeta".
"Mein Kollege schrie 'Zieh hoch!', doch das Flugzeug blieb im Sinkflug", berichtete der Lotse, der es vorzog, anonym zu bleiben. Dann sei die Funkverbindung abgebrochen. Die Maschine vom Typ TU-154 M habe mehrere Bäume gestreift und sei dann abgestürzt und auseinandergebrochen. Beim Aufprall des Fliegers habe es ein Feuer gegeben, das aber sofort gelöscht worden sei. "Aber zu retten war da schon niemand mehr."
Flughafen hätte geschlossen werden müssen
Erste Einschätzungen von Experten sehen menschliches Versagen als Hauptgrund für die Katastrophe: "Die Rekonstruktion des Landeanflugs der Maschine des polnischen Präsidenten hat ergeben, dass die Piloten bis zur letzten Sekunde die Möglichkeit hatten, die Tragödie zu verhindern", sagte ein russischer Ermittler der Nachrichtenagentur Ria Nowosti.
Dem Moskauer Radiosender Echo Moskvy zufolge sollen die Piloten im letzten Moment versucht haben, das Flugzeug nach links zu ziehen und gleichzeitig an Höhe zu gewinnen - ein verhängnisvoller Fehler, der dazu führte, dass die Tragfläche Bäume rammte und die Maschine aus dem Gleichgewicht geriet.
Doch auch am Boden lief offenbar nicht alles nach Plan: Die polnische Zeitung "Wyborcza" berichtete unter Berufung auf einen Mitarbeiter des Außenministeriums, dass der Airport Smolensk aufgrund der schlechten Wetterbedingungen gar nicht hätte arbeiten dürfen. Ein Flughafenangestellter sagte demnach: "Wir sind alle schuld an dieser Tragödie. Der Flughafen hätte geschlossen werden müssen." Angesichts des dichten Nebels sei eine Landung zumindest bis 12 Uhr mittags "kategorisch verboten" gewesen. "Aber wir konnten das nicht tun, weil das als diplomatischer Skandal und Beleidigung des polnischen Präsidenten wahrgenommen worden wäre."
Missverständnisse mit dem Tower ausgeschlossen
Der polnische Flugkapitän galt laut den russischen Ermittlern als sehr zuverlässig. "Er war ein erfahrener, vernünftiger Pilot", betonte der Vater von Arkadiusz Protasiuk in der "Bild"-Zeitung. 1930 Flugstunden habe auf seinem Konto gehabt, sei niemals unnötige Risiken eingegangen.
Der britische "Guardian" hatte vermutet, Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Fluglotsen und der Besatzung hätten zu dem Unglück geführt. Demnach erklärte der russische Fluglotse Pawel Pljusnin, der als letzter mit dem Cockpit der TU-154 M in Kontakt stand, er habe die Piloten schwer verstehen können, weil sie schlecht Russisch sprachen.
Dies bestritt der Vater des polnischen Piloten: Sein Sohn habe ausgezeichnet Russisch gesprochen, Missverständnisse mit dem Tower in Smolensk halte er für ausgeschlossen. Schon beim Flug des Premierministers Donald Tusk nach Katyn, drei Tage vor dem Unglück, sei sein Sohn an Bord der Regierungsmaschine gewesen, verantwortlich für den Funkkontakt mit den russischen Fluglotsen in Smolensk. Damals habe es keinerlei Probleme gegeben.
Generalüberholung der Maschine vor dem Unglück
Auch technische Probleme werden derzeit weitgehend ausgeschlossen: Am Samstag war bekannt geworden, dass die Unglücksmaschine erst im Dezember in der Werft Aviakor im russischen Samara generalüberholt wurde. Ein Sprecher des Unternehmens sagte der "Nowaja Gazeta", die Maschine sei damals mit einem modernen Navigationssystem ausgerüstet worden. Die Auswertung der Flugschreiber hatte laut Nachrichtenagentur Ria ergeben, dass es an Bord vor der Bruchlandung keine Explosion und kein Feuer gegeben habe und die Triebwerke bis zum Aufschlagen auf dem Boden funktionstüchtig waren.
Am Montag erstattete der Vorsitzende der Ermittlungskommission, Alexandr Bastrykin, Ministerpräsident Wladimir Putin Bericht: Auch aus der Aufzeichnung des Gesprächs zwischen dem Piloten der TU-154 M und dem Fluglotsen gehe hervor, dass es keine technischen Probleme gegeben habe. "Der Pilot war über die schlechten Wetterverhältnisse informiert, hat aber dennoch beschlossen, zu landen", so Bastrykin.
"Die Besatzung hat gewusst, dass man nicht landen darf"
Dieses Manöver war ohne Frage riskant. Die Voraussetzungen für eine sichere Landung bei Nebel sind klar definiert: Ein Flugzeug vom Typ TU-154 M hätte auf dem Militärflughafen von Smolensk nur bei einer Sichtweite von mindestens 800 Metern landen dürfen. Tatsächlich soll sie laut der russischen Agentur für Luftsicherheit bei höchstens 400 Metern gelegen haben.
"Die Besatzung hat gewusst, dass man auf dem Smolensker Flughafen nicht landen darf", sagte der Militärpsychologe General Wladimir Ponomarenko der "Nowaja Gazeta": Warum der Pilot sich trotzdem dafür entschied? "Wir gehen davon aus, dass der Kapitän einen direkten Befehl vom polnischen Präsidenten erhielt", sagte eine Quelle aus Ermittlerkreisen. Man habe um keinen Preis verspätet auf der Gedenkfeier in Katyn erscheinen wollen.
Der zuständige Fluglotse soll dem Piloten empfohlen haben, auf die Flughäfen Moskau oder Minsk auszuweichen - vergeblich. Er sei allerdings als Militärangehöriger nicht befugt gewesen, die Landung einer zivilen Maschine zu unterbinden, so der Informant.
Der Fluglotse des Airports Sewernyj vermutet laut "Nowaja Gazeta", der Pilot könne eigenmächtig gehandelt haben, frei nach dem Motto: "Ich habe hier den Präsidenten an Bord und soll nicht landen dürfen?" Militärpsychologe Ponomarenko spricht von einer "hohen emotionalen Anspannung", die zu solchen Fehlentscheidungen führen könne.
Eine sichere Landung auf dem Militärflughafen sei "schwierig, aber nicht unmöglich" gewesen, so der General. Der Kapitän habe gleich mehrere Fehler gemacht: Er setzte zu früh zur Landung an und kam zudem um etwa 150 Meter vom Gleitweg ab.
Funzelbeleuchtung statt Lichtmarkierung
ANZEIGE
Der Fluglotse erklärt, der Pilot habe sechs Kilometer vor dem Airport auf 100 Meter Flughöhe gehen und dann checken müssen, ob die Landebahn zu sehen ist. Im Negativfall hätte er auf einen anderen Flughafen ausweichen müssen. Stattdessen habe sich die Tupolew bei sechs Kilometern schon knapp über der Erde befunden und sei mit zu großer Geschwindigkeit auf den Boden zugerast.
Offenbar hätten sie nach Lichtmarkierungen gesucht und sie nicht gefunden - was nicht verwunderlich ist, denn laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian stehen an der Unglücksstelle vor der Landebahn lediglich drei verwitterte Holzpfähle, auf die man hinter gelbem Glas gewöhnliche Glühbirnen montiert habe.
Die Anflugbefeuerung am Flughafen Sewernyj entspricht nicht dem ICAO-Standard. Auch soll die 2500 Meter lange Landebahn noch nicht einmal über Markierungen verfügen. Zudem fehlt es an einem sogenannten Instrumentenlandesystem (ILS), das Piloten in einem idealen Anflugwinkel von drei Grad bis zum Anfang der Piste führt.
Quelle: Spiegel online