Aggressive Bahn-Fahrgäste: Zielscheibe Zugbegleiter

  • Die Bahn zählt zu den sichersten Verkehrsmitteln. Aber nicht für die eigenen Mitarbeiter. Ein interner Bericht der Deutschen Bahn zeigt: Die Zahl massiver Attacken steigt. Vor allem Zugbegleiter leben gefährlich - sie werden angepöbelt, bespuckt und manchmal ins Krankenhaus geprügelt.


    Die Attacke kommt ohne jede Vorwarnung. Der Tritt trifft Zugbegleiterin Heike S., 47, direkt im Nierenbecken. Sie sackt zusammen, krümmt sich vor Schmerzen, sieht sich um. Der Angreifer packt ihre Hand und beginnt, die zierliche, 1,54 Meter große Saarländerin wüst zu beschimpfen. "Der Kerl war zwei Meter groß. Und ich stand total unter Schock", erinnert Heike S. sich an jenen Juniabend 2011, den sie so schnell nicht vergessen wird.


    Vor dem Blitzangriff des mutmaßlichen Schwarzfahrers hatte sie gerade die Tickets in der Regionalbahn von Trier nach Perl kontrolliert, unterhielt sich mit Fahrgästen und sah den Schläger nicht kommen. "Nach dem ersten Tritt und einigen Sekunden, in denen ich fast reglos war, begann der Mann, mich quer durch das Abteil zu prügeln", Faustschlag auf Faustschlag, erzählt Heike S.


    In dem halbvollen Wagon "hat keiner mir geholfen", so die Zugbegleiterin, viele hätten aus dem Fenster gesehen. Erst als der offensichtlich betrunkene Täter einen Moment abgelenkt war, sei sie aus ihrer Starre erwacht: "Ich dachte an meine Kinder und wie ich hier noch lebend raus komme." Schon fast ein Jahr lang war S. in einem Kickbox-Kurs, sie schlug zurück und traf den Mann an der Kehle. Er fiel zu Boden, dann griffen zwei Fahrgäste ein und hielten ihn fest. Doch während Heike S. in Richtung Lokführerkabine lief, um Hilfe zu rufen, flüchtete der Angreifer am nächsten Bahnhof aus dem Zug.


    Drei ausgekugelte Finger, Prellungen und Blutergüsse - die körperlichen Verletzungen heilten rasch, die seelischen nicht. "Seither fährt bei mir öfter die Angst mit", sagt Heike S. Ihre Vorgesetzten bei der Bahn hätten allerdings "vorbildlich reagiert": Abendschichten habe sie für längere Zeit nicht mehr übernehmen müssen; zudem setze die Bahn im Saarland nun deutlich mehr Zugbegleiter auf sensiblen Verbindungen ein. Dennoch wurde sie bereits zwei Monate später abermals von einem renitenten Fahrgast angegriffen: "Der Mann hat mir ins Gesicht gerotzt, als ich seine Fahrkarte sehen wollte."


    Attacken vor allem bei Ticketkontrollen


    "Die Gewalt gegen Bahnmitarbeiter hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen", sagt Stefan Leuschner von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die EVG hat dazu gerade erst ihre Mitglieder befragt; die Auswertung liegt SPIEGEL ONLINE vor. 90 Prozent der gut 600 Teilnehmer gaben an, sie seien im Dienst schon einmal in eine "heikle Situation" geraten, zumeist von Fahrgästen genötigt oder beleidigt worden. Jeder Vierte sagte, er sei im Dienst auch Opfer physischer Gewalt geworden. Eine Sprecherin der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) berichtet, betroffen seien neben Zugbegleitern auch die Lokführer.


    Bei Jobs bei der Deutschen Bahn (DB) lauern auch laut offizieller Statistik Gefahren. 2011 wurden in Zügen und Bahnhöfen 1679 Körperverletzungen registriert, davon richteten sich 748 gegen Bahnangestellte - zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Und der Trend hält an: Im ersten Halbjahr 2012 stieg die Zahl gewaltsamer Übergriffe gegen DB-Mitarbeiter im Vergleich zum Vorjahr um 5,4 Prozent. Das zeigt ein unveröffentlichter Bericht, den die Bahn als "vertraulich" einstufte und der SPIEGEL ONLINE vorliegt. Im Bereich Personenverkehr betrug der Zuwachs gemeldeter Attacken sogar 27,2 Prozent.


    "Die häufigsten Delikte stehen nach wie vor im Zusammenhang mit Fahrkartenkontrollen", heißt es im internen Bericht der Konzernsicherheit. Zugleich nahmen erstmals seit Jahren auch die Attacken gegen Fahrgäste wieder zu. 866 Körperverletzungen in Zügen und Bahnhöfen wurden im ersten Halbjahr gemeldet, ein Anstieg um knapp zehn Prozent im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum.


    "Lückenloser Schutz leider unmöglich"


    Ein DB-Sprecher bestätigt auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE die Zunahme der Übergriffe. "Die Bahn ist ein offenes System. Damit werden auf Bahnsteigen und in Zügen auch all jene Konflikte ausgetragen, die sonst auf den Plätzen und Straßen der Städte wiederzufinden sind", sagt er. In den Sommermonaten habe sich aber der Trend hin zu mehr Gewalttaten wieder abgeschwächt; ohnehin passiere bei der Bahn nach wie vor "viel weniger als im sonstigen öffentlichen Raum".


    Tatsächlich kennen Polizei und Rettungskräfte das Problem wachsender Gewaltbereitschaft ebenso: Von den Sanitätern und Feuerwehrleuten wurde schon jeder Vierte Opfer von Gewalt, ergab im Frühjahr eine Studie aus Nordrhein-Westfalen. Und auch die Zahl der Angriffe gegen Polizeibeamte ist 2011 stark gestiegen.


    7,5 Millionen Menschen reisen täglich mit der Bahn - für sie bleibt die Gefahr gering, Opfer eines Übergriffs zu werden. Anders sieht es für die Mitarbeiter aus. Vier von zehn durch die DB registrierte Angriffe richteten sich in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gegen das Personal des Staatskonzerns. Zur Zielscheibe werden vor allem Zugbegleiter (45 Prozent der registrierten Übergriffe) und Sicherheitskräfte oder Kontrolleure (30 Prozent). Lokführer waren die Opfer in vier Prozent der Fälle. Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 2011.


    Berlin und Hamburg sind laut Sicherheitsbericht Brennpunkte der Gewalt. Die meisten Übergriffe gibt es indes in Bayern. Auch DB-Konkurrenten sind betroffen; die Brutalität nimmt zu. Meist sind die Tatorte Regionalzüge und S-Bahnen.


    Oktober 2012, München: Ein junger Mann schubst einen Schaffner der Oberlandbahn aufs Gleisbett, das 47 Jahre alte Opfer bricht sich das Bein mehrfach. ´
    August, Dortmund: Ein 20-Jähriger verprügelt einen Zugbegleiter der Eurobahn in Dortmund - nur weil der ihm die nächste Verbindung nicht nennen kann.
    Juni, Brandenburg: Unbekannte schlagen einem Kundenbetreuer in einer Regionalbahn eine Glasflasche auf den Kopf und rauben ihn aus.
    April, Berlin: Ein Mann schlägt einen Lokführer am S-Bahnhof Wannsee krankenhausreif.


    Bei 27.000 Zugfahrten täglich, rund 5700 Bahnhöfen und 34.000 Kilometer Streckennetz sei "ein lückenloser Schutz leider unmöglich", erklärt ein DB-Sprecher. Die Bahn setzt auf Deeskalationskurse für die Mitarbeiter, zudem wurden allein 2011 nach ihren Angaben 500 zusätzliche Security-Leute eingestellt - auch das allerdings ein Grund für vermehrte Attacken: "Die stärkere Präsenz unserer Mitarbeiter an den Konfliktherden erhöht leider auch das Potential für Übergriffe", so der Sprecher.


    "Wir Zugbegleiterinnen sind kein Freiwild"


    Und wie geht die Bahn mit Übergriffsopfern unter ihren Mitarbeitern um? Bei der EVG-Umfrage gaben zwei Drittel als Reaktion der Bahn auf ihre Meldung des Vorfalls an: keine Reaktion. Ein Bahnsprecher betont dagegen: "Sollte ein Vorgesetzter auf Zwischenfälle, die ihm von seinem Mitarbeiter gemeldet werden, nicht eingehen, so entspricht dies nicht der gelebten Praxis und den Vorgaben des Konzerns." Man erfasse die gemeldeten Delikte genau - und "wo es vermehrt zu Übergriffen auf Personal und Kunden kommt, werden auch mehr Sicherheitskräfte eingesetzt".


    EVG-Gewerkschafter Stefan Leuschner bestätigt, die DB unternehme viel für höhere Sicherheit ihrer Mitarbeiter; es bleibe aber noch manches zu tun. Die Bahngewerkschaften fordern für sensible Strecken mehr Sicherheitspersonal sowie mehr Zugbegleiter.


    Besseren Schutz wünscht sich auch Stefanie B. An einem Sonntagmorgen vor drei Jahren attackierte ein Fahrgast die Zugbegleiterin auf einem südbayerischen Bahnsteig. Nach einer heftigen Ohrfeige litt die junge Frau monatelang unter einem massiven Tinnitus. Die Polizei fasste den Angreifer später.


    Stefanie B. sieht auch eine Mitschuld der Kunden an der eskalierenden Gewalt: Die Fahrgäste dürften nicht länger wegsehen, wenn Bahnmitarbeiter attackiert würden. "Wir Zugbegleiterinnen sind kein Freiwild", sagt sie, "da muss sich was ändern."


    Darauf warten will Stefanie B. aber nicht - sie sieht sich nach einem anderen Beruf um.


    Quelle: Spiegel online vom 9.11.2012

  • EVG-Gewerkschafter Stefan Leuschner bestätigt, die DB unternehme viel für höhere Sicherheit ihrer Mitarbeiter; es bleibe aber noch manches zu tun.

    Immerhin erkennt die Gewerkschaft das poitiv an!


    Bei der EVG-Umfrage gaben zwei Drittel als Reaktion der Bahn auf ihre Meldung des Vorfalls an: keine Reaktion.

    Das finde ich mindestens genauso skandalös!


    "Sollte ein Vorgesetzter auf Zwischenfälle, die ihm von seinem Mitarbeiter gemeldet werden, nicht eingehen, so entspricht dies nicht der gelebten Praxis und den Vorgaben des Konzerns."

    Da muss entsprechend durchgegriffen und sanktioniert werden.


    Im übrigen gibt es genügend Beispiele, wo Mitarbeiter ebenfalls durch Gewalttaten zu Schaden kommen und Firmleitung und/oder Vorgesetzter nicht reagieren oder teilnahmslost zum Alltag übergehen. Beispiel: Ein gute Bekannter ist Filialleiter einer Bank, die überfallen wurde - inklusive Gewaltanwendung. Vom Vorstand kam danach diesbezüglich nichts an Reaktion!

  • Schon traurig, aber es scheint einfach allgemein schlimmer zu werden....Im Rettungsdienst ist das ganze nicht anders, ich wurde allein im Praktikum von 4-5 Patienten bzw angehörigen beschimpft, einer hat versuchen tätlich zu werden, wenn man das ma hochrechnet..

    Grüße
    Simon
    Staatlich geprüfter Sterbensverzögerer


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